Kurz gefasst: Was definiert die Orte künstlerischer Prozesse? Wie unterscheidet sich kreative Arbeit im Atelier von ortsspezifischer Arbeit? Basierend auf einer ethnographischen Studie der Projektreisen der Künstlerin Mirja Busch werden drei raumkonstituierende Praktiken analysiert, die Atelier und andere Produktionsorte gemeinsam haben: Manipulation, Akkumulation und Abgrenzung. Deutliche Unterschiede sind dagegen in der Zeitlichkeit des Schaffensprozesses festzustellen; das Arbeiten jenseits des Ateliers ist gekennzeichnet durch Elemente des Jagens.
Künstlerisches Arbeiten außerhalb des Ateliers findet heute große Beachtung. Reisen ermöglichen neue Fragestellungen und sind Teil des künstlerischen Schaffensprozesses geworden. Im zeitgenössischen Kunstdiskurs ist Reisen explizit mit der Suche nach dem Ortsspezifischen verbunden, wie etwa in der Land and Environmental Art der späten 1960er und 1970er Jahre oder in neuen Formen der partizipativen Kunst seit den 1990er Jahren. Grundlegender Gedanke dabei ist, dass die Identität und Bedeutung eines Kunstwerks in der Auseinandersetzung mit einem einzigartigen Ort oder einer Situation liegen – „to move the work is to destroy the work“, behauptete der amerikanische Bildhauer Richard Serra in Bezug auf seine New Yorker Arbeit Tilted Arc. Damit wird nicht nur der White Cube als idealer Ausstellungsraum in Frage gestellt, in dem Kunstwerke in einem autonomen Bezugssystem beobachtet werden können, sondern auch das Atelier als Produktionsort eines einzelnen, isolierten und genialen Individuums. Für den französischen Künstler Daniel Buren bestand das Problem des modernen Kunstsystems gerade darin, dass Kunstwerke sich zwischen diesen zwei abgeschotteten Orten, dem Atelier und dem White Cube, bewegen müssen, sodass Künstler im Atelier ihre Arbeiten der Sterilität des White Cubes anpassen müssten. Dagegen zeigten nur ortsspezifische Arbeiten die Wirklichkeit, die in Bezügen des Werks zum komplexen Entstehungskontext liegt.
Ist dieser Gegensatz zwischen künstlerischer Arbeit im Atelier und an anderen Orten gerechtfertigt? Die Wissenschaftsforschung kann bei der Analyse des Zusammenspiels von Raum und Zeit in der künstlerischen Praxis erste Anhaltspunkte bieten. So zeigt Bruno Latour in einem Aufsatz über die Arbeit von Botanikern im Amazonas, die größte Herausforderung für Wissenschaftler auf Expeditionen liege darin, Laborbedingungen herzustellen. Dabei wird das Labor nicht als architektonischer Raum gedacht, sondern als räumliche Konfiguration. In diesem Sinn möchte ich den Gegensatz zwischen studio und site aufheben und der These nachgehen, dass ortsspezifische Praktiken der Kunstproduktion die Wiederherstellung von Atelierbedingungen benötigen, um sich entfalten zu können. Dabei möchte ich eine alternative Definition des Ateliers aufzeigen, die dieses eben nicht als architektonisch abgeschlossenen Ort, sondern eher als Ergebnis einer Praxis denkt.
Entscheidend ist, wann beziehungsweise in Bezug auf welche Praktiken ein Raum – einer mit vier Wänden oder in der offenen Weite der Landschaft – zum Atelier wird. Für meine empirische Untersuchung habe ich die Künstlerin Mirja Busch 2010 auf Projektreisen in die Uyuni Salzwüste (Bolivien), 2011 in die Alpen und 2012 durch den Südwesten der USA begleitet. Drei raumkonstituierende Praktiken – Manipulation, Akkumulation und Abgrenzung – prägen das atelierbasierte wie ortsspezifische Arbeiten, dazu kommen verschiedene Zeitstrukturen.
Manipulation
Mirja Buschs Reiseziele sind überwiegend weiße und karge Landschaften, in denen kontrollierte, visuelle Experimente mit Licht, Farbe und Dreidimensionalität möglich sind. Überwiegend geht es dabei um Installationen von einfachen Elementen in die Landschaft und ihre fotographische Dokumentation. Im Schaffensprozess funktionierte die weiße Landschaft dabei nicht als White Cube, sondern als Labor. Das ermöglicht die Wiederholung von Experimenten, ist aber keineswegs perfekt, weil jeder Versuch Fußspuren oder Eindrücke installierter Objekte in der Landschaft hinterlässt. Versuche müssen oft einige Meter weiter wiederholt werden, womit sich Ausschnitt, Schatten, Licht und andere atmosphärische Bedingungen ändern können.
Weiß ist als konstante Eigenschaft einer Landschaft nicht leicht zu finden. Reisen bedeutet für Mirja Busch die ewige Suche nach stabilen Orten, in denen Experimente möglich sind, so wie in der Salzwüste Boliviens. Dort stellte die sich übers Jahr verändernde Oberfläche der Salzwüste als eine Herausforderung heraus, da geometrische Salzformationen fast jeden möglichen Bildausschnitt im Experimentierraum dominierten. Über Tage wurden Strategien ausprobiert, um diese Salzformationen ins Konzept zu integrieren oder sie zu umgehen. Das Fegen mit einem Besen war einer der letzten Versuche, nachdem alle anderen, wie etwa Platttreten, gescheitert waren. Auch den Ort zu wechseln, weil selbst der Besen den gewünschten Experimentierraum nicht bereiten konnte, gehörte zu den simplen, aber präzisen Strategien, den Entstehungsort von Kunst zu manipulieren.
Diese ethnographischen Beobachtungen von den praktischen Herausforderungen an die ortsspezifische Praxis stehen nicht in Konflikt mit dem künstlerisch-kreativen Prozess, den das Atelier als Experimentierort ermöglicht. Das Atelier entstand im 17. Jahrhundert aus demselben experimentellen Zeitgeist, der zur Erfindung des wissenschaftlichen Laboratoriums führte. Diese parallele Entwicklung hat unter anderem die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers untersucht. Sie zeigt, wie hauptsächlich in der Malerei von Diego Velázquez oder Jan Vermeer das Atelier zum Instrument für die Auseinandersetzung mit Licht als Medium wurde. Auch in den folgenden Jahrhunderten wurde das Atelier immer mehr zum Experimentierlabor. Alpers Arbeit weist so auf eine grundsätzliche Ein Versuch, den Raum zu gestalten: Glätten der Wüste mit dem Besen. [Foto: Mirja Busch] Praxis hin, die das Atelier konstituiert, die kontrollierte und systematische Manipulierung jener Faktoren, die den künstlerisch-kreativen Prozess beeinflussen.
Diese historischen Beobachtungen ermöglichen es, das Atelier nicht als architektonischen Raum zu verstehen, sondern als einen von der und für die Praxis der Manipulation definierten Raum. Etymologisch bezieht sich auch der Begriff des Studios nicht primär auf einen Ort, sondern auf eine Aktivität, die des Studierens, des Erforschens. Durch diese Aktivität unterscheidet sich das Atelier von einem verwandten Ort: der Meisterwerkstatt. Die Werkstatt als Ort des Handwerkers ist ein Ort des Lernens durch Erfahrung. Das Atelier ist dagegen ein Ort des Studierens und Experimentierens, ein Ort für die Erforschung und Aneignung von schwierigen, eigenwilligen Problemen durch die präzise Manipulation der sozialen und materiellen Umstände des Arbeitsprozesses.
Akkumulation und Abgrenzung
Der Projektreise durch den Südwesten der USA, die visuelle Experimente und Eingriffe in zirka 50 Orten entlang einer 8.600-Kilometer-Route umfasste, ging eine Vorbereitungsphase im Archiv des ehemaligen Centers for Advanced Visual Studies am MIT in Cambridge, USA, voraus. Das von Otto Piene angelegte Archiv ist einer der zentralen Orte für die Entstehung der Land and Environmental Art. Die Archivdokumente lieferten Quellen für visuelle
Konzepte und Ideen, die als Skizzen, Arbeitstitel und Auflistungen für mögliche Experimente in einem Notizbuch festgehalten wurden. Gleichzeitig sammelten sich in einem improvisierten Arbeitplatz Materialien, Werkzeuge, industriell gefertigte Objekte und vor allem selbst gebaute Elemente für weitere Experimente und Ideen an. Das Archivmaterial ging – ordentlich in Boxen und Koffern verpackt – mit auf die Reise.
Viele dieser Elemente spielten eine wichtige Rolle bei der Suche nach den Experimentierorten; einige wurden in vielen Gegenden ausprobiert, bis eine Verbindung zwischen Ort und Objekt gefunden war. Gleichzeitig ergaben sich an vielen Orten künstlerische Auseinandersetzungen mit dort gefundenen, produzierten oder besorgten Objekten, sodass fast die Hälfte der transportierten Materialien nie zum Einsatz kam. So wurde der Wohnwagen zum temporären Stauraum und Archiv; ein enger Ort, in dem man mit diesen materiellen Mediatoren von vielleicht längst nicht mehr aktuellen Ideen und Ansätzen auskommen und zusammenleben musste. Auf diese Weise schufen diese Elemente einen materiellen und visuellen Hintergrund, vor dem experimentiert, Interventionen dokumentiert und Arbeiten geschaffen wurden.
Es lässt sich eine zweite Praxis identifizieren, die Räume künstlerischer Produktion konstituiert: die Akkumulation von Dingen, Materialien, Objekten, Werkzeugen, Modellen, Referenzen, missglückten Versuchen, alten Arbeiten oder nicht weiter verfolgten Ansätzen. Aus dieser Perspektive kann das Atelier als Stauraum und Archiv beschrieben werden. Das Arbeiten darin findet so in einer heterogenen und überladenen Umgebung statt, die nicht den Gegenstand, sondern den Hintergrund einer künstlerisch-kreativen Praxis bildet, den Unterschied zwischen Alt und Neu, die Grenzen zwischen verschiedenen Arbeiten und Projekten vermischt und als Quelle von unerwarteten Bezügen und Ideen fungiert.
Darüber hinaus benötigt das künstlerische Arbeiten im Atelier wie an spezifischen Orten eine Abgrenzung von sozialen Kontexten, Formen voreiliger Kritik und ablenkenden Reizen, die den künstlerisch-kreativen Prozess in unerwünschten Richtungen anstoßen könnten. Während sich in den vier Wänden eines Ateliers präzise kontrollieren lässt, welche Impulse hineinkommen und welche Ergebnisse hinausgehen, wird dieser Schutzraum in Projektreisen unter anderem durch die gezielte Vermeidung von touristischen Orten und Landschaften geschaffen. Genauso wie im Fall der Manipulation und der Akkumulation kann die Abgrenzung im Atelier konsequenter und radikaler vollzogen werden als im Verlauf einer Reise, aber das ist eben ein quantitativer, kein qualitativer Unterschied.
Über Bauern und Jäger, Prozess und Ereignis
Die Vorgänge, wodurch ein Raum für die Entfaltung einer künstlerischen Praxis konstituiert wird, sind also für atelierbasiertes und ortsspezifischer Arbeiten dieselben. Folglich möchte ich vorschlagen, dass die für die künstlerische Praxis relevanten Unterschiede, die das Reisen mit sich bringt, nicht so sehr in Bezug auf die Räumlichkeit gedacht werden sollten, sondern eher in Bezug auf Zeit, also auf die spezielle Zeitlichkeit des Arbeitens während des Reisens.
Entscheidend ist die Metapher der Ausbeute, die ab und an in Gesprächen während der Reiseprojekte aufkam, zum Beispiel, wenn abends der Vorschlag gemacht wurde, sich die Ausbeute des Tages anzuschauen. Diese Metapher ist natürlich schwer zu denken im Zusammenhang mit der Arbeit im Atelier; ein Ort, an dem die Entstehung von Kunstwerken nicht durch bestimmte Ereignisse definiert wird, sondern wo Ideen und Projekte langsam wachsen – oder eben nicht mehr wachsen und langsam absterben. Künstlerische Prozesse im Atelier haben daher etwas von Agrikultur und der Zeitlichkeit organischer Wachstumsprozesse, die sich dadurch kennzeichnen, dass man sie nur über sehr lange Zeitstrecken beobachten kann. Irgendwann gibt es auch ein Produkt, das man ernten kann, aber der Prozess dahin ist einer des langsamen Ausreifens. Verlangsamung von Entscheidungsprozessen ist also ein wichtiges Prinzip der Atelierarbeit, auch wenn diese sich dann durch feste Ausstellungstermine wieder beschleunigen und eine andere Dynamik annehmen kann.
Dagegen steht die Ausbeute für einen ganz anderen Prozess, einen mit einer ganz anderen Zeitlichkeit: der Künstler nicht als Bauer, sondern als Jäger, als nomadische Figur, die schnell auf Ereignisse reagieren und Entscheidungen treffen muss. Im Rahmen dieser Projektreisen mussten unablässig grundlegende Entscheidungen getroffen werden: Anhalten oder nicht, Ausprobieren oder nicht – und immer schwang das Gefühl mit, dass irgendwo eine noch bessere Beute zu holen ist. Die Reise als Jagd ist also ein Prozess voller Entscheidungen, die über Leben und Tod möglicher Kunstwerke entscheiden. Da gibt es kein Zurück, kein Abwarten, keine zweite Chance. Noch wichtiger: Es gibt keinen Prozess. Der Jäger kann sicherlich lernen. Seine Fähigkeiten und Fertigkeiten werden besser mit der Zeit, aber seine Handlung ist kein langsamer Prozess, sondern immer ein punktuelles Ereignis.
Ignacio Farías ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit.
Mirja Busch lebt und arbeitet in Berlin. Werke von ihr waren in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, unter anderem in L’Atelier-ksr, The Wand, Halle am Wasser (Berlin), CAPC musée d’art contemporain de Bourdeaux und im Kunstverein Hannover. Ihre nächste Einzelausstellung „Pfützenarchiv“ ist ab dem 14. November in der Berliner Galerie cubus‑m zu sehen. Für weitere Informationen über die Künstlerin siehe www.mirjabusch.com.
Literatur
Alpers, Svetlana: „The Studio, the Laboratory, and the Vexations of Art“. In: Caroline A. Jones/Peter Galison (Eds.): Picturing Science, Producing Art. New York/London: Routledge 1998.
Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics. Paris: Les presses du réel 2002.
Buren, Daniel: „The Function of the Studio“. In: October, 1979 [1971], Vol. 10, Autumn, pp. 51–58.
Kaye, Nick: Site-Specific Art. Perfomance, Place and Documentation. London/New York: Routledge 2000.
Latour, Bruno: Pandora’s Hope: Essays on the Reality of Science Studies. Cambridge, MA: Harvard University Press 1999.
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Quelle: WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 17–20 Herausgeberin: Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung Professorin Jutta Allmendinger Ph. D. 10785 Berlin, Reichpietschufer 50 Tel.: 030⁄25 49 10, Fax: 030⁄25 49 16 84 Internet: http://www.wzb.eu
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